Saturday, October 29, 2005

MONODRAMA, Oxygen, Teil 1


Bild I

Die Aufführungsrechte für Oxygen besitzt der Drei Masken Verlag, München

OXYGEN von Volker Lüdecke

Prometheus

Ein Berggipfel mit Gipfelkreuz. Kornbichler in Bergsteigerausrüstung klettert die letzten Meter hinauf, schaut in die Ferne, dreht sich mehrmals im Kreis.


Kornbichler: Endlich! Unendlich. Hier und nur so kann sich Gott offenbaren. Welch einmalige Erscheinung einer Ferne. Aus Ländern Landschaft. Europa! Den Vögeln da unten spuck´ ich aufs Gefieder.

Er spricht in ein Diktiergerät.

Verehrte Teilnehmer und Teilnehmerinnen! Überlegt, spricht Silbe für Silbe. Teil-nehmer-innen. Wessen Teil hätten sie denn gern? Gross oder klein, dick oder dünn? So nicht. Es gibt Wörter, über die stolpert man und bricht sich das Genick. Ethnische Säuberungen. Teilnehmerinnen.

Er schaltet das Diktiergerät wieder aus.

Ja der Anfang, bis man mal am Steigen ist, fällt schwer. Teilhaber vielleicht? Für die männlichen Anwesenden, sofern sie von den Teilnehmerinnen nicht kastriert worden sind. Eine misslungene Anrede, und ich bringe den Rest meiner Europarede nicht mehr heraus. Luft, Luft, Luft!

Er geht auf dem Berggipfel im Kreis.

Frankreich, Italien, Schweiz. Der weite Länderkranz, mit bloßem Auge! Und das da hinten mag vielleicht Deutschland sein, und Österreich da drüben. Oder ist das jetzt Slowenien? Jetzt gleich reiße mich der Herrgott in den Himmel. Das ist schön. Und der Teufel flüstere mir eine Rede ins Ohr, die auch sture Schweizer überzeugt: Kapitalanlagen in Europa!

Schaltet das Diktiergerät wieder ein.

Liebe Anleger und Anlegerinnen! Stop! So nicht.

Er schaltet wütend das Diktiergerät aus.

Mahlzeit! Bin ich ein Landungssteg im Zürisee? Die sollen heraus aus ihrer Talenge, große Weltökonomie!

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Liebe Tagungsbesucher und Besucherinnen!

Wir haben Sie zu unserer Tagung eingeladen, damit Sie mit uns gemeinsam einen Gipfel besteigen. Stop! So nicht.

Er schaltet das Diktiergerät aus.

Tagung ist entsetzlich. Tagung macht sofort müde. Ein Happening muss her, Karneval, Gewinne in der Tombola. Ein Fest.

Er sinnt nach, dann schaltet er das Diktiergerät ein.

Liebe Börsianer und Börsianerinnen!

Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Ihnen die Vorteile unserer Anlagestrategie vor Augen zu führen, die ich mit eigenen Augen ... Pause! Mahlzeit! Liebe Indianer und Indianerinnen, nehmt das Leben nicht so schwer!

Er schaltet das Diktiergerät aus, setzt sich auf einen Felsen.

Hier umweht mich Gottes Odem. Die Sprache des Menschen wird zur armseligen Stümperin. Ja, meine Augen kennen nur die Grenzen ihrer Schärfe. Europa! Unser Bundesstaat. Unsinn, Staatenbund. Nein, Staatenverbund. Verfluchte Bundessilbe, wieviel magst du gekostet haben? Wie soll ich denen Europa beibringen?

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Liebe Europäerinnen und Europäer!

Durch einfaches und bescheidenes Leben auf unserer Almhütte sind Sie nun von Ihrer Raffgier geheilt. In Zukunft können Sie ein von Überfluß befreites Leben führen. Ihr Besitz wurde vertragsgemäß eingezogen. Wir garantieren, dass ihr Aufkommen zum Schutz der Hochgebirge verwendet werden wird. Die Populationen der Gemsen und renaturierten Steinböcke danken Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen. Wir beglückwünsche Sie zu Ihrer errungenen Mittellosigkeit. Kein Anlageberater wird Sie fortan belästigen. Lebt Wohl! Ciao! Arrividerci! A biento! Hasta la vista, baby!

Er schaltet das Diktiergerät aus.

Mit fünfundvierzig höre ich auf. Europa bietet noch die Möglichkeit für schnelles Geld. Die Maschine wird neu montiert.
Ein warmer Wind treibt den Berg hinauf. Die vereinigten Länder, eine rosige Zukunft.

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Liebe, verehrte, geschätzte Aufsteiger,

im Morgengrauen schritt ich zur Alleinbegehung eines europäischen Gipfels. Ich bin bekannt für mein Tempo auf gemischtem Terrain. Mein Körper verhält sich wie eine Klettermaschine, die sich unerbittlich an jedem Halt festkrallt. Diese Leistung hat etwas Übermenschliches. Ich habe auch zuerst geflucht und dann die ersten unbeholfenen Schritte gemacht. Und wenn Sie sich dies vor Augen führen, wird Ihnen bewußt, dass wir alle das gleiche tolle Spiel spielen. Aber tief in unserem Herzen wissen wir, dass wir im Grunde genommen völlig normal sind. Kein Firlefanz, kein Brimborium, kein Mist. Der Berg muss an der richtigen Stelle angegriffen werden. Wer sich in unübersichtlichem Gelände verirrt, oder die falsche Ausrüstung trägt, ist verloren. Wir haben die Erfahrung, Ihr Kapital sicher über den Grat in die Höhe zu geleiten. Sie dürfen profitieren. So. Ja. Stop!

Er schaltet das Diktiergerät aus.

Mahlzeit! Das war beinahe ein Bohrhaken. Klassische Erstbegehung in möglichst kurzer Zeit. Geringer Hakenaufwand. Himmel, ich will die Wolken weg blasen, damit die Wirtschaft floriert. Luft!

Er steht auf und stolpert, fällt hin. Bleibt einen Augenblick benommen liegen, dann beginnt er liegend immer schneller zu reden.

Europa ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Nationen sind Vergangenheit, die Gegenwart sind wir. Besitz, ein reiches Erbe an Erinnerungen, der gemeinsame Wunsch, Geld zu verdienen. Unser Unternehmen ist eine Solidargemeinschaft, gemeinsame Opfer, die wir gebraucht haben, um uns weitere Opfer zu ersparen. Das setzt eine gemeinsame Vergangenheit voraus, um zu der Übereinkunft zu gelangen, Schluss, wir wollen die gemeinsame Erfolgsgeschichte fortsetzen. Scheiße! Scheiße! Ich habe es nicht aufgezeichnet!

Er steht auf, drückt auf Knöpfe an seinem Diktiergerät, setzt sich auf einen Felsen, blickt starr und angespannt in die Ferne, dann drückt er auf Start.

Europa ist ein Prinzip. Keine Rasse, keine Glaubensgemeinschaft, sondern eine Seele. Wir glauben daran, weil wir eine Gemeinschaft sind, die Opfer gebracht hat. Mehrere Dinge, die in Wahrheit eins sind, machen die Gegenwart aus: Besitz. Wir brauchen ein reiches Erbe an Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, dass wir im Einvernehmen sind. Unser Wunsch ist eine große Solidargemeinschaft, getragen von einem Gefühl, das wir brauchen. Wir wollen den Fortschritt fortsetzen. Und so weiter. Stop!

Er schaltet das Diktiergerät aus und macht ein Yoga Sonnengebet. Danach setzt er sich wieder auf den Felsen und starrt minutenlang in die Ferne.

Das rauscht beinahe so heraus, und jetzt weiss ich schon nicht mehr, was ich eben gesagt habe. Man wird immer abhängiger von diesen kleinen Maschinchen. So soll es wohl sein. In dieser Stille möchte ich vor mir in alle Einzelheiten zerfallen. Welche Höllenkräfte haben diesen Ausblick hochgefaltet? Jesus Maria! Da spricht der Christ aus mir. Möchte damals nicht Seismograph gewesen sein.

Er rutscht von dem Felsen herab. Er macht Pause, Brotzeit. Dann schaltet er das Diktiergerät ein.

Hochgeschätzte Geographen,

die erweiterte Richterskala! Auch wenn unsere Zeitreise uns voranführt, wollen wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen. Verschwendete Energie, aber was soll´s. Unsere Meinung macht aus allem alles. Darin liegt das Geheimnis der Progression. Dafür haben wir gründlich recherchiert. Meine Damen und Herren, wir treten in einen gewaltigen Konsensraum. So. Ja. Stop!

Er schaltet das Diktiergerät wieder aus, überprüft seine Bergsteigerausrüstung.

Die Emphase entscheidet, nicht der Inhalt. Nur die Vermehrung von Besitz vermittelt Sicherheit. Man muss ständig auf Überfälle gefaßt sein. Jeder neue Trend erzeugt Ängste. Triumphieren ist das einzige Erlebnis, das uns Erleichterung verschafft. Wir brauchen diesen Kick. Luft! Die Luft scheint mir hier oben auch nicht besser als im Tal. Stickoxide allerorten. Der Schornstein muss rauchen, nur qualmen darf er nicht.

Er füllt sich aus einer kleinen Flasche einen Schnaps in einen Becher, räuspert sich laut, macht einige hüpfende Bewegungen und setzt sich abrupt und benommen auf den Boden.

Holla, der Trunk macht in der Höhe doppelt Eindruck. Das brennt. Ja, ja, ja, wenn mal ein eisiger Wind weht, bist du mein Retter in Bergnot.
Wen ich gestern wiedergetroffen habe. Wenn ich mir heute überlege, was gestern alles passiert ist. Nach so einem Tag muss man in den Berg.
Mehr kann eigentlich gar nicht mehr passieren.

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Wenn bei einem nichts passiert. Herrschaften, das ist eine zermürbende Perspektive. Und wenn man sie erzählt. Das Essen beim Italiener war miserabel, Mahlzeit! Das ist nicht komisch, das ist lächerlich. Wenn bei einem nichts passiert. Meine Damen. So. Ja. Stop! Pause.

Er schaltet das Diktiergerät aus, blickt geradeaus auf einen Punkt am Horizont. Dann schaltet er das Diktiergerät wieder ein.

Man muss zusehen, dass etwas passiert. Das ist anstrengend. Wenn einer, bei dem nichts passiert, etwas passieren lassen will. Da bieten sich viele Möglichkeiten. So. Ja. Stop!

Er schaltet das Diktiergerät aus, kichert in sich hinein. Dann schaltet er es wieder ein.

Einen traf ich gestern. Eine Karriere. Erzählte, dass in seinem Leben etwas passiert. Karies. Da darf man nicht lachen. Der hatte sich ausdauernd dagegen gewehrt, dass bei ihm nichts passiert. Kolossal! Ist mir schlecht.

Er schaltet das Diktiergerät aus, um es gleich wieder einzuschalten.

Obwohl er gern noch weiter ausgeholt hätte. Verehrte Anwesende! Die letzten Überseeurlaubsgeschichten. Vielleicht werden alle künftigen Geschichten so aussehen. Wenn Sie der Person auf Ihrem Passfoto gleichen, haben Sie diesen Trip bitter nötig. Unser Unternehmen plant jeden Schritt in Ruhe und mit großer Voraussicht. Überstürzen Sie Ihre Entscheidung nicht! Unter bemühter Aktivität erkennt man deutlich den Stillstand. Ja. So! Stopp!

Er schaltet das Diktiergerät aus, liegt einen Moment erschöpft auf dem Rücken.

Irgendwann vielleicht, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Im Büro fällt mir nichts mehr ein. Man muss sich in extreme Situationen begeben. Wir haben jetzt ein Europa-Konzept. Das halte ich für sinnvoll. Es bedeutet ja nicht, dass es einen einheitlichen europäischen Geschmack geben wird. Ich kann nicht jedesmal auf einen Berg klettern. Das Schlagen der Türen macht mich wahnsinnig. Aus meiner Sicht müssen wir kein globaler Spieler sein, Global Player! um zu überleben. Ich kann manche Stimmen von Kollegen nicht länger ertragen. Die müssen zum Logopäden mit ihren Ansichten, einen neuen Kehlkopf! Sonst springe ich einmal einem an den Hals und drücke zu!

Er setzt sich auf.

Ich schaffe es nicht. Kann sie nicht überzeugen. Verpackung? Nein Design! Das Ding muss in die Zukunft weisen. Und darf trotzdem die vertrauten Linien der Tradition nicht vermissen lassen. Das unbekannte Ungeheuer, das in die Tiefe der Geschichte reicht. Die Klientel ist genauso entwurzelt, spielt mit Kapital.
Das ist mein Ansatz, mein Profil, meine Rede. Ein beinahe grenzenloser Typus Mensch ist diese Sorte Europäer. Ein Fischschwarm. Heuschrecken! Den der Hunger gern auch mal in andere Gewässer treibt.

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Verehrte Investoren!

Der biedere Mann kauft Immobilien. Die versichert er teuer gegen Krisen. Der biedere Investor denkt immer an die Krise. Sein Leben kreist nicht um Gewinn, sondern um Verlust. Dafür zahlt er Versicherungen. Und davon möchten wir uns mit Ihnen gemeinsam distanzieren. Unser Schutz gegen Krisen heißt traditionell Flexibilität und schnelle Information. Meine Damen und Herren, mit uns müssen sie sich nicht in Betonfundamente gießen. Warten Sie ohne große Belastung unsere projektierte Wertschöpfung ab. Der Markt ist immer in Bewegung, und mit uns sind Sie beweglich. Ihre Zukunft mit uns! Mit uns haben Sie Zukunft. So. Ja. Stopp! Erledigt.

Er schaltet das Diktiergerät aus, schaut minutenlang in die Ferne. Er schaltet es wieder ein.


Liebling,

wie soll ich Schönheit genießen, wenn alles käuflich ist? Ich sehe die herrlichen, schneebedeckten Gipfel und frage mich, wie viel mag so ein Berg wert sein? Ein gutes Skigebiet mit Liftanlage ist heute noch wertvoller als die steile Nordwand. Aber kann die Nordwand nicht vielleicht morgen das Geschäft sein?
Ich baue einen Fahrstuhl in den Berg. Man klettert in Etagen, kauft zwischendurch im Höhlenkaufhaus ein, erfrischt sich. Was ich betrachte, verwandelt sich beinahe gleich in Gewinn. Vermarkten, prognostizieren und vermarkten. Ich kann nicht mehr mit anderen Augen sehen. Was machbar ist, ist schön. So. Jawohl! Stopp!

Er schaltet das Diktiergerät aus und springt auf.

Meiner Traumfrau gewidmet. In die archaische Bergwelt, in diese geologische Urgeschichte hinein getrieben unternehmerischer Tatendrang. Dafür allein hat sich beinahe der Aufstieg schon gelohnt. Darauf kommt man ja nicht im Büro, wenn man immer die abstrakte Malerei anstarrt, die einem wie automatisch gesichtslos in jedem Zimmer entgegen hängt.

Er schaut auf die Uhr.

So, Feierabend! Keiner ist mir nachgestiegen. Das ist glücklich. Nur allein kann man frei mit sich selber sprechen. Was ich noch alles leisten möchte! Das geht noch höher hinauf.

Er sucht seine Sachen zusammen, entdeckt eine halb leere Konservendose.

Schweinerei! Heute war schon vor mir einer hier. Schweinefleisch aus der Dose. Frisch gefroren, das hält sich. So eine Schweinerei!

Er schleudert die Dose den Abhang hinunter.

Wer soll das einsammeln? Ich trage anderen nicht ihren Abfall hinterher. Wie die letzten Menschen! Pork! Aus der Dose. Auf einem Gipfel von über viertausend Metern. schreit Ich bin nicht der Müllwirtschafter für andere Leute. Ich nicht. Wenn die ihren Scheiß in einer solchen Höhe hinterlassen. Wenn ich einen erwische, den stoße ich den Hang hinunter.
Ich gebe nicht den Unterdrückten. Ich lasse mich von dieser Firma nicht fertigmachen. Ich nicht. Bin ich etwa ein Animateur wie Heinz Böhner? Der redet irgendeinen Dreck daher und die Leute lachen. Ich habe die Klientel überzeugt, ich. Durch mein Sachwissen. Die legen doch nicht Hunderttausende an, weil einer Witze erzählt. Wer kann das denn nachvollziehen? Meine Korrespondenz hat die überzeugt. Schreibarbeit, aber die behaupten, es waren seine Witze.

Er ringt nach Luft, wickelt das Seil auf.

Jetzt ist Böhner weg. Abgeworben von der Konkurrenz. Verdient da das doppelte, heißt es. So nicht mit mir. Mich wollen die auf Böhner dressieren? Mich, der schon vorher Böhners Arbeit gemacht hat? Das ist eine Erniedrigung, das ist eine solche Erniedrigung. Ich soll dem Kasper nachkaspern? Kreativ hat der sich geschimpft, und Kreative brauchen ja Zeit und Raum und Platz für ihre fäulnisfaule Kreativität. Darauf hat der sich ausgeruht den ganzen Tag und ich konnte seine Arbeit erledigen. Attitüden hatte der sich angeeignet, unglaublich. Schickt den Chef zum Kaffeekochen. Macht sich in seiner Abwesenheit lustig. Und was passiert? Keine Rüge. Keine Geste. Kein Kommentar. Autoritätsverfall. Böhner hat von da an gar nicht mehr gearbeitet. Ich weiss es, ich. Er war ja das Genie, das großartige, obwohl es von da an bergab ging. Ein Bluffer. Ein richtiger Halunke. Der ins Gefängnis gehört. Der uns ruiniert hat, einen Scherbenhaufen hinterläßt. Und ich soll ihn imitieren? Ich werde ihnen einen liefern, einen Böhner. Einen dreifachen Böhner!

Er setzt sich erschöpft.

Luft, ich brauche Luft. Bin ich froh, dass der weg ist. Jetzt verseucht er eine andere Firma mit seinen Intrigen. Seine Misserfolge anderen unterzuschieben, darin war Böhner meisterlich. Stornierungen seinetwegen? Gab es nicht. Nein, die Nachbearbeitung hat mal wieder die Suppe versalzen, stolzierte er lauthals schimpfend am Chefzimmer vorbei zum Raucherzimmer. Ich musste mich rechtfertigen, ich, sofort zum Chef, denn kampflos gebe ich nicht auf. Aber wer sich rechtfertigt, hat Schuld. Das ist eine Logik, die grassiert in Chefetagen. Jetzt bin ich schuld, dass Böhner gegangen ist. Nicht die Firma, die ihn abgeworben hat, nein, ich habe mich mit Böhner nicht verstanden, ich habe Böhner das Leben zur Hölle gemacht, ich habe seine Abschlüsse verdorben, ich habe schlecht über ihn geredet. Jetzt soll ich das wieder richten, wie er Witze erzählen, mit hohlem Pathos Reden halten, Hände schütteln, Wangen küssen, pfui und was weiss ich noch. Aber ich habe die Erfolge gemacht, ich.
Böhner kam immer mindestens eine Stunde später als ich, mindestens. Und trotzdem war ich meistens der letzte abends. Wie soll da Böhner erfolgreicher gewesen sein als ich? Das hieße ja, Böhner ist ein Genie, und ich bin ein Trottel! Das hieße ja, Fleiß zahlt sich nicht aus, sondern Faulheit.

Er schaltet das Diktiergerät ein.

Verehrte Anwesende,

Sie kennen die Gerüchte, ich habe Böhners Stelle gewollt. Dagegen muss ich mich entschieden zur Wehr setzen. Diese Gerüchte wurden von Böhner selbst und von der Konkurrenz lanciert, die ihm jetzt mehr als das Doppelte seines Gehaltes zahlt. Damit sie, liebe Anwesende, ihm zur Konkurrenz folgen. Dafür zahlen sie ihm das höhere Gehalt. Nicht für seine Fähigkeiten, die in unserem Unternehmen sich als mäßig herausgestellt haben, nachdem wir die Bilanz seiner Tätigkeit nun öffentlich ziehen können. Böhner dient der Konkurrenz bloß als Köder. Und dass Böhner bereit ist, sich als Köder mißbrauchen zu lassen, das zeigt seinen Charakter. Wir schätzen uns froh, dass Böhner abgeworben wurde, denn er stand bei uns kurz vor seiner Entlassung, wegen gravierender Fehler. Davor wollten wir sie bewahren. Ich persönlich erwäge zur Zeit eine Anzeige gegen Böhner wegen Verleumdung und übler Nachrede. Nie habe ich Böhners Stelle gewollt. Ich war mit meiner Stelle zufrieden, nur dass ich mit Böhner zusammenarbeiten musste, hat mich gestört. Das ist die Wahrheit. Böhner ist ein erfolgreicher Lügner, das ist er. Meine Damen und Herren, Sie wissen selbst, dass er auch Sie betrogen hat, wenn Sie sich gefälligst an seine Versprechungen und Verheißungen tatsächlich erinnern. Haben sich seine Prognosen bewahrheitet? Nein. Betrachten Sie Ihr angelegtes Vermögen. Die Wahrheit musste ich Ihnen mitteilen, das war meine Aufgabe. An mich waren Ihre Beschwerdebriefe adressiert, an mich, obwohl Böhner zuviel versprochen hatte. Ich bin nicht fähig, andere Menschen zu belügen, und deshalb habe ich Böhners Stelle niemals gewollt. So. Jawohl. Stopp!

Er schaltet das Diktiergerät aus.

Luft, ich kann nicht mehr. Aber es ist das Beste, denen die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie es nicht gewohnt sind. Es muss einmal eine reine Luft werden, dass man wieder atmet!

Er schlägt einen Sicherungshaken in den Fels und bindet sich ans Seil.

Ab jetzt geht´s abwärts, nur noch bergab.

Er schultert seinen Rucksack und hängt sich prüfend ins Seil. Dann verschwindet er hinter einer Klippe. Aus dem Off:

Der Hang ist vereist. ruft Allen Göttern zu Ehren: den dreifachen Böhner!

Das Echo seines Rufens ertönt. Dann hört man seinen Schrei, der lange hallend die Zuschauer in die Pause begleitet.