Friday, October 28, 2005

MONODRAMA, Oxygen, Teil 2


Bild II

Gaya

Das Echo seines Schreis hallt fortwährend in den Bergen. Abenddämmerung. Kornbichler, in einer Felswand an einem schaukelnden Seil hängend, versucht vergeblich, sich hinauf zu ziehen.


Kornbichler: Keine Panik, es hat keinen Zweck. Ich kann nur hoffen, dass das Seil oben noch stark ist. Das ist das einzige, was ich noch hoffen kann. So, jetzt keine Panik.

Er schreit laut und langanhaltend.

Das musste raus. Die Angst muss raus. Und jetzt werde ich ganz ruhig. Und das Seil hört auf, an der Kante zu scheuern, weil ich ganz ruhig bin.

Das Echo seines Schreis.

Sonderbar, dass mich beinahe am Ende meines Daseins keine großen Gedanken bewegen. Auch zieht nicht in rasender Bilderfolge mein Leben an mir vorbei. Meine Gedanken sind beinahe banal, fast lächerlich. Die Bilanz begreife ich nicht. Also muss es wieder aufwärts gehen. Mahlzeit!
Eines der wenigen Seile, die einem sogenannten Kantensturz standhalten, sagte der Händler. Der gute Mann überredete mich zum Kauf. Wenn ein Kletterer mit einem Gewicht von fünfundachtzig Kilogramm an einem Stahlseil fünf Meter tief fällt, tritt eine Kraft von zweitausend Kilogramm auf, sagte er. Zum Glück hat die treue Seele mir das teuerste Seil mit dem niedrigsten Fangstoß und eine Dämpfungsplatte empfohlen.

Er bewegt sich in seinem Gurt, schwingt hin und her. Sofort hält er still, schaut misstrauisch hinauf.

Es gibt gute Händler, keine Schwindler wie Böhner, der einigen Klienten Risikofonds angedreht hat, mit denen sie abgestürzt sind. Au! Eine beruhigende Sicherheitsreserve, sagte er zum Abschied.
Ruft Hallo, Hallo, Hilfe, Hilfe!

Er lauscht, hört das Echo seines Rufens.

Warum bin wieder ich der Trottel? Habe genügend Probleme, es reicht! Immer ist der Urlaub zu Ende, bevor er angefangen hat. Ich habe keine Lust am Abenteuer. Das Edelweiß, die Höhenluft, der Ausblick, das können andere viel besser beurteilen.

Er tastet mit einer Hand hinter sich.

Den Rucksack hat es glatt weggerissen. Und die Kapuze. Gut, dass der mich vom Felsen abgefedert hat.

Er versucht zu sprechen. Es gelingt nur ein Krächzen. Nach einigen heiseren Versuchen findet er seine Stimme wieder.

Als ich an Böhner gedacht habe, lag ich gleich zerschmettert da unten. Weil Böhner mich bis auf den Grund gebohrt hat. Dieser Böhner muss endlich aus meinem Kopf. Ich bin nicht wegen Böhner hier. Ich bin Alpinist. In der Pension sagen sie Bescheid, wenn ein Tourist aus dem Berg nicht zurückkommt. Für die bin ich ein Tourist, der sich leichtsinnig in Gefahr begibt. Sich wieder spüren, sich erneuern, das Aggregat auftanken! Für die bin ich ein Geschäft. Negative Schlagzeilen können die sich nicht leisten. Eigentlich wollen die hier keinen Menschen sehen, keinen Böhner und auch andere nicht. Aber sie müssen sich arrangieren wegen der Ökonomie.
Ich will hier auch keinen sehen, wenigstens keinen aus der eigenen Stadt, möglichst auch keine Europäer. Einen Afrikaner im Kaftan läßt man sich überall gefallen, einen Indianer mit Federschmuck, oder buddhistische Mönche. Das sind Exoten, die kann man anstaunen, weil man die nicht täglich sieht. Die betrachtet man genauso wie die Bergziege oder das Hochwild.
Jedes Produkt muss einen exotischen Reiz besitzen, weil man das am weitesten Entfernte haben will. Wenn alles bekannt ist, ist man gezwungen, Grenzen zu überschreiten. Daran krankt die gesamte europäische Idee, weil bald alles eine Soße ist. Gut, dann wird eben Identität durch ein Produkt ersetzt.
Friede jedem Campingplatz! Welcher Ex-Holländer möchte zum Beispiel freiwillig neben Ex-Deutschen campieren? Welcher Ex-Belgier neben Ex-Franzosen? Das sind aber immerhin noch die harmlosen Beispiele, denn der europäische Garten als Geografie ist ja insgesamt größer als die Europäische Union. Ich kann mir während der jährlichen Stadtflucht auch einen exportierten Bürgerkrieg vorstellen. Autsch! Der Sportkletterer-Komplettgurt schneidet in den Körper, obwohl der Händler sagte, der anatomische Schnitt gewährleiste beste Druckverteilung. Bei gleichzeitig totaler Bewegungsfreiheit! Nur die Hosennaht scheuert an den Hoden. Teilt, was nicht geteilt sein will. So nicht. Stop!

Er versucht sich zurecht zu rücken, wodurch das Seil wieder zu schaukeln beginnt. Abrupt hört er damit auf.

Mahlzeit! Die Polsterung mit der angeblich hautfreundlichen Fleece-Innenseite ist ein Schmarren. Dieses Verkaufsgenie! Da ist der Gedanke an Böhner wieder, schleicht sich ein in einen Disput mit einem Händler für Bergsteigerausrüstung. So heimtückisch ist Böhner, dass er sich überall einmischt, wovon er keine Ahnung hat, aber ein Gesicht dabei macht, als hätte er ein Komplettwissen. Böhner verschwindet nur, wenn ich schnell und laut weiterdenke. Das macht Böhner keine Freude. Ja, wenn einmal seine Stimme überboten wird, sein häßlich lautes Organ. Der Ausrüstungsladen ist jetzt schon von Böhner verseucht, an den darf ich nicht mehr zurückdenken. Böhner liegt da fett in einem Biwak und wartet auf den ungünstigsten Moment, um zu erscheinen.

Kornbichler schweigt, schaut in den Himmel.

Ein Flugzeug. Zürich - New York. Höher als der Mount Everest. Da habe ich Angst. Hinein in die Höllenmaschine, hinauf zu den Göttern und hinunter ins Paradies. Ein gnädiger Gott gab den Menschen das Feuer, damit sie Maschinen erfinden, die sie direkt ins Paradies befördern.
So sternenklar wie dieser Himmel, friert´s über Nacht. Ich muss mal auf Toilette. Wächst ein kalter Zapfen mir im Hochgebirge.

Er nestelt an seiner Hose.

Der geschützte, und im Schritt durchgehende Bombay Fly, macht den `Gang hinter den Busch´ zum Kinderspiel, selbst dort, wo vor Kälte und Steilheit kein Gras mehr wächst. Das läßt sich jetzt kaum verschieben, ich werde beinahe wahnsinnig. In der Praxis sieht alles noch mal ganz anders aus, besonders in Verbindung mit einem Gurt, der einen kapitalen Sturz aufgefangen hat. Daran denkt so ein Händler nicht beim Verkauf. Ein Gauner, der minderwertige Billigware aus dem außereuropäischen Ausland importiert und sie als wertvoll und haltbar anpreist. Das ist ein grauenvoller Gedanke, dass vielleicht ein billiges Material verwendet worden ist, das ich teuer bezahlt habe. Um wie Böhners Klientel damit abzustürzen.

Es beginnt aus seinem Hosenbein herauszulaufen. Es wird Nacht.

Mahlzeit! Ich höre die Kollegen schon, wie sie über das Rumgehänge des Kornbichlers in der Wand lästern, oder sich über sein Gehänge auslassen. Zum Glück wissen die nicht, dass ich hier hänge. Also hänge ich hier nicht wirklich. Die Politik des leeren Stuhls haben schon ganz andere vorgemacht. Europa a la carte!
Zweimal wöchentlich ins Fitneßstudio. Kann mich aus jeder peinlichen Situation heraus stemmen. Regelmäßig einen Barren mehr aufgelegt. Mein Rücken ist bretthart. Knäcke. Im Büro nennen sie mich Kornknäcke. Weil ich immer gerade im Stuhl sitze. Ich weiß. Ich weiß, wer das erfunden hat.

Er schweigt protestheischend.

Sollen sie lachen. Ohne konditionelle Vorbereitung kann jeder Depp in der flachen Bergwelt herumkraxeln, aber in der höheren Bergwelt wäre es tödlich.

Er fröstelt.

Ihr Sterne da oben schickt eine erbarmungslose Kälte herunter. Von euch soll ich mein Schicksal kennen? Soll mein Unglück da oben seine Ursache haben? Ein Böhnerstern am Himmel. Ein schwarzes Loch, in das komplette Galaxien stürzen. Den Großen Wagen erkenne ich. Sieht aus wie ein alter Lumpensammlerkarren. Lese mein Horoskop beinahe täglich in der Zeitung. In dem Geglitzer erkenn ich´s nicht.
Ich fürchte, dass Böhner eine Art Prinzip ist. Vielleicht läßt sich Böhner aus der Welt nicht entfernen, weil gleich ein neuer an seine Stelle tritt.

Schweigen.

Ich befinde mich in einer Ausnahme. Das geregelte Leben halte ich auch beinahe nicht aus. Die Ausnahme birgt Vorteile, wenn man ungefähr weiss, wie sie ausgeht. Dann kann man über einen Ausnahmezustand beinahe lachen und sich an seiner Dauer erfreuen.

Er pfeift das Lied: “Froh zu sein bedarf es wenig ... .”

Froh sein möchte ich augenblicklich über die Ausnahme, die mich heimsucht. Böhner würde sich in meinem Fall sofort darin einrichten. Aber Böhner ist auch im Ausnahmezustand nicht greifbar, weil er bei seiner Lebensführung mit einer Ausnahme immer rechnet. Ich bin sicher, wenn ich Böhners Charakterlosigkeit einmal verstanden habe, dass mich dann nichts mehr überrascht. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, um ihn endlich loszuwerden. Wenn Böhner ein Prinzip ist, dann gibt es so viele charakterlose Menschen, dass mein Böhner in der Böhnermasse untergeht und darin für immer verschwindet. Wer vollkommen flexibel ist, löst sich vielleicht irgendwann in Luft auf. Platzt wie ein Luftballon.

Er kramt in einer Brusttasche seines Parkas.

Das ist schon komisch, dass ich mich in diesem Moment der Erkenntnis an den Schokoriegel in der Paniktasche meines Parkas erinnere. Die meisten halten sowas gar nicht aus. Wieviele leben allein in ständiger Angst vor einer Ausnahme, die sie potentiell heimsucht. Denen würde in meiner Lage gleich die Luft ausgehen. So richtig sehe ich sie vor mir, die phlegmatischen Dauersitzer. Schwammwesen, die aufsaugen und ausschwitzen. Dass sie sich an ihrem Schreibtisch parfümieren müssen, damit sie nicht stinken. Mahlzeit! Ranzige Membranexistenzen. Ich habe durch mein Training ein vermindertes Schwitzen erzielt. Ich sondere kaum noch übelriechende Sekrete ab. Dafür leide ich verstärkt an den Absonderungen derjenigen, die mit ihrer Sekretion weniger gezielt umgehen. Die meisten glauben, dass sie mit herkömmlichen Hygieneartikeln ausreichend bedient sind. Allein diese Diversität beeinflusst nachhaltig das Raumklima einer jeden Bürogemeinschaft. Yes. Stop!

Er stellt fest, dass er kein Diktiergerät in der Hand hält. Sucht vergeblich in seinen Taschen.

Das sind unerklärliche Ausfallerscheinungen, die ich wie nichts an mir hasse. Da möchte ich die Arbeit sofort hinschmeißen und nichts mehr, aber auch gar nichts mehr jemals damit zu tun haben. Das wirft mich gegenüber Böhner beinahe meilenweit zurück. Weil ich mich im Gegensatz zu Böhner für meine Fehler selbst verantwortlich fühle. Jawohl, denn ich besitze einen Charakter. Aber warum Böhner im Gegensatz zu mir keinen besitzt, muss ich herausfinden, wenn ich Böhner als Prinzip begreifen möchte.
Sicher ist, er hat nichts zu sagen, weil er alles nur kommentiert. Möglichst zynisch, mit einem flachen Humor. Sein flexibles Standardlachen für alle Fälle. Mahlzeit!

Er ahmt Lachen in verschiedenen Variationen nach.

Falls er zu einer Gelegenheit seinen geselligen Humor vorweisen muss. Dann flattern seine Zwerchfellmuskeln. Da besitzt er eine trainierte Atemtechnik, die ihn in den Stand versetzt, andere Atmungen auf seine hin zu synchronisieren und einen Lachreiz damit beinahe föderal zu übertragen. Die damit einhergehenden Erschütterungen wirken scheinbar befreiend, weil sich vielleicht nebenbei bei den Lautlachern einige Verkrampfungen lösen, obwohl keiner, und das ist wiederum eine weitere Erkenntnis über Böhner, obwohl keiner dabei wirklich tief durchatmet. Diese Gesellschaft lebt nur im oberen Brustbereich. Es mag sogar daher rühren, dass beim Lachen die Brüste gegebenenfalls vereinzelt anwesender Damen dermaßen erschüttert werden, dass sie auf und nieder beben, so dass insofern ein erotischer Reiz zum Reiz des Lachens an sich hinzustößt. So. Fertig. Stop!

Er sucht mit abwesendem Gesichtsausdruck sein Diktiergerät.

Solche Mitlacher sind beinahe sicher keine Bergsteiger. Weil sie so flach geatmet gar nicht den Berg hinauf kommen. Es mag sogar sein, dass man sie in bestimmten Urlaubsgebieten gehäuft antrifft, wo sie in konzentrischen Lachkreisen beieinander hocken und sich gebärden, wie sie es von zu Hause nicht gewöhnt sind. Wenn Böhner ein Massenphänomen ist, dann tritt er in bestimmten Badeorten auf. Ich meinerseits habe mich schon beinahe immer vor dem Sog umworbener Massenveranstaltungen bewahrt. Andersherum hat mir eine Häufung von Böhner in Badeorten jedes Verlangen nach einem Bad dort so verleidet, dass ich indirekt gezwungen bin, meinerseits in den Bergen zu kraxeln. Mit anderen Worten: Böhner verleidet mir nicht nur den Aufenthalt in gängigen Badeorten, er zwingt mich sogar, in den Bergen immer gefährlichere Routen zu wählen, um auch dort der Präsenz möglicher Stellvertreter zu entkommen. Ich nenne sie der Einfachheit halber vorläufig Bergböhner.

Er stellt fest, dass das Diktiergerät fehlt.

Das ist eine Riesensauerei!

Schweigen.

Wenn ein Markt zusammenbricht, muss eben gleich ein neuer erschlossen werden. Man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt. So rede ich in schwierigen Zeiten, und das gilt auch für sofort. Aus mit dem Jammern, fertig!

Schweigen.

Es ist erholsam, Menschen auszuweichen. Sich nicht allein zu fühlen, scheint etwas furchtbar Anstrengendes, ein sich ständig anfassen müssen zum Beispiel ... Mit den meisten möchte ich nicht verliebt sein. Mahlzeit!

Ein Handy klingelt in seiner Parkatasche. Kornbichler reagiert nicht.

Morgen wird die Bergwacht alarmiert, Hubschrauber, Suchtrupps, Bernhardiner Hunde. Wer mich findet bekommt eine Erfolgsprämie, von mir gestiftet, damit kann er anfangen, was er will. Entweder eine Gemeinschaft gründen, oder sich ganz allein einen auf die Lampe gießen. Mir ist es egal, ob die Leute sich in irgendwelchen nationalen Bergvereinen wohlfühlen, weil sie nicht allein sein können. Für die ist das doch ein Abenteuer, wenn es heißt: Ausschwärmen, ein Tourist wird vermißt. Unterwegs schimpfen sie auf den Leichtsinn der Touristen, das trifft auf mich schon mal nicht zu, das werden sie allein an meiner Ausrüstung schon erkennen. Bin doch kein Prä-Alpinist.

Das Handy hört auf zu klingeln. Nach einer kurzen Pause klingelt es erneut.

Ich sehe sie beinahe vor mir, gebräunte Gesichter, Schneebrillen, so zwischen dreißig und fünfzig, in irgendeiner Bergwächterkluft, multifunktional hierum- und darum gegürtet. Taschen vorne, Taschen hinten und seitlich, auf den Köpfen Helme oder Pudelmützen, die ganze Palette beinahe wie vom technischen Hilfswerk, nur spezialisierter. Überall Schnallen, an denen sie sich akrobatisch vorne, hinten und seitlich festschnallen können, so ähnlich wie Feuerwehrleute, die geschwind eine Leiter hinauf und hinunter flitzen können, was zwischendurch schon mal übungsmäßig als Wettkampfsport ausartet. Jedenfalls diese Sorte wird morgen hier erscheinen. Mal sehen, wie ich sie begrüße.

Er versucht, seine Lage bequemer zu gestalten, zieht sich ein Stück am Seil hoch und entspannt das Gesäß. Das Handy hört auf zu klingeln.

Grüß Gott, wie ist das Wetter da unten? Nein, ich darf ihre Kulturhoheit nicht verletzen. Sonst verlangen sie die Kosten für den Einsatz. Ich bin unschuldig in diese Notlage geraten und als Mitglied der Europäischen Union verdiene ich das Mitleid und die solidarische Hilfe der Nettozahler. Wenn sie den Berg herauf geschwitzt kommen, hänge ich erbarmungswürdig beiläufig hier herum, bereit für meine Rettung. Ich werde mich bemühen, den Thermoeffekt meiner Kleidung zu ignorieren. ruft laut Ich friere!

Er lauscht dem hallenden Echo nach.

Leider kann ich ihnen nicht das klassisch halb erfrorene Bergopfer bieten. Mein Parka besitzt eine Außenschicht aus Mini-Ripstop Nylon, die berühmte neue HzweiNO-Storm-HB-Barriere, mit einem wasserdichten, winddichten, hochatmungsaktiven Gere-Technologies-Laminat, und ein Futter aus Polyestertrikot, insgesamt dreilagig. Bis minus fünfzehn mache ich es spielend. Mehr wird es heute Nacht nicht geben. Eine laue Sommernacht. Ich werde einen bestimmten Gedanken nicht los. An manche Dinge soll man nicht denken, sonst treten sie ein, wenn man nicht austreten kann.

Er rutscht an dem Seil herunter. Das Handy klingelt erneut. Er nimmt es aus seiner Parkatasche und wirft es gegen den Felsen, dass es zerschmettert.

So nicht! Soll er zur Geschäftszeit anrufen. Ich bin privat für Böhner nicht zu sprechen. Dass Böhner sich möglicherweise doch von der Böhnermasse abhebt, weil er schon beinahe fast darin verschwunden war und trotzdem einen Dreh findet, wieder aufzutauchen, macht ihn noch gefährlicher. Böhner ist ein Verwandlungskünstler. Seine magischen Fähigkeiten nutzt er niemals zum Guten, denn es genügt ihm nicht, wie ein Illusionist etwa, sein Publikum zu unterhalten. Er dringt tiefer in sie ein, zieht sie in seinen Bann, um sie von sich abhängig zu machen. Erst wenn er das geschafft hat, fühlt Böhner sich sicher. Ja, ich erinnere mich an gewisse Kleinanleger, die sich nach ihren hohen Verlusten besorgt nach Böhner erkundigten. Sie hatten nicht etwa vor, ihn für ihre Verluste aus seinem Anzug zu prügeln, nein, sie wollten ihm vielmehr ihre letzten Ersparnisse anvertrauen, damit er sie vollends ruiniere. Das lehnte Böhner jedoch ab. Nicht etwa aus Menschlichkeit, sondern weil er sie nicht völlig mittellos auf dem Hals haben wollte. Vor Armut hat Böhner sich immer gefürchtet. Er nannte diese Kleinanleger einmal seine Gespenster, die ihn verfolgen. Mit denen ist er nach Verlusten brutal umgesprungen, so als sei ihr Geld daran schuld, dass der Kurs ins Bodenlose gefallen war. Niemand hat sich jemals gegen Böhner gewehrt. Die Verlierer sahen ihn als Handlanger ihres Schicksals, und die Gewinner zahlten ohne Umstände die überhöhten Prämien. Ich glaube sogar, dass einige süchtig nach Böhner geworden sind. Wenn er lächelte, wähnten sie sich beinahe gleich in paradiesischem Reichtum, wenn er grollte, zitterten sie ehrfurchtsvoll um ihr Vermögen. Mahlzeit!

Er denkt nach.

Diese Bergpatrouille ist eine karitative Einrichtung, ein Strukturfond. Fühlen sich moralisch erhöht, weil sie andere kohäsionieren.
Nächstes Thema. Wie eine Akte, die auf den Schreibtisch kommt. Was haben wir denn da? Die meisten Anschreiben sind teuer entwertetes Briefpapier. Taste neun, Standardantwortschreiben, Adresse einfügen, Klick, Drucken, Unterschrift, fertig. Ab in die Post. Weil ein Beruf gemacht sein will.

Er beißt von einem Schokoriegel ab.

Mmh! Mir geht´s hervorragend. Ich vertraue der Technik, ich vertraue den Ausrüstungen, um in jeder Lage zu überleben.

Er verspeist einen weiteren Schokoriegel.

Hallo Liebling,
bin gerade abgestürzt, hänge in einer steilen Wand. Du bist doch nicht eifersüchtig, oder? Das ist geil. Meine Ex anrufen, Sybille, die sich vor schwarzen Käfern fürchtet, weil die sie an Verwesung erinnern. Hallo, ich habe gerade echte Todesangst, wahnsinniger Adrenalinstoß, totaler Orgasmus. Die liebt mich immer noch, ich weiss es. Ich habe sie verlassen, weil sie behauptet hat, das mit Böhner sei Spinnerei. Eine fixe Idee von mir. Konnte sie das beurteilen?

Er schaukelt etwas hin und her. Dann schwindet sein Übermut, er hält wieder still.

Liebe Anleger und Kleinanleger!

beinahe selten ist es einem gegönnt, so tief in die Mechanismen der Zusammenhänge einzudringen, dass man sicher sein kann, diese von Grund auf zu verstehen. Ich kann mich nun glücklich schätzen, dass mir diese Seltenheit nicht vergönnt ist. Böhner ist ein durch und durch ängstlicher Mensch. Seine Angst vor dem Tod lebt er dadurch aus, dass er häufig andere sterben läßt. Wie in unserer Branche üblich, nicht wirklich, sondern finanziell. Dennoch leiden seine Opfer tatsächlich unter seiner Ängstlichkeit. Denn Böhner riskiert nichts. Aber wer in diesem außerordentlich harten Geschäft ängstlich oder feige ist, der sollte erst gar nicht antreten. Sie haben diesen Mut, denn sie suchen das finanzielle Risiko mit der Hoffnung auf hohen Gewinn. Klettern Sie etwa mit dem Dax?
Böhner kann vielleicht Mißtrauen in Vertrauen verwandeln. Aber da enden auch schon seine Fähigkeiten. Ihr Vermögen überläßt er dem Zufall. Und der ist auf der Seite der Mutigen. Ja. Bravo. Stop!

Er schaukelt absichtlich das Seil.

Das ist der entscheidende Schlag gegen Böhner. Böhner neigt zu Badeorten, nicht zur gefährlichen Bergtour. Das muss verbreitet werden, und der Mann ist erledigt. Böhner hat von nun an beinahe seine gesamte Biographie gegen sich. Er wird sich rechtfertigen müssen, nicht ich.

Er klettert an dem Seil hinauf, langsam, stumm. Er schafft es fast, aber seine Kraft reicht nicht. Langsam rutscht er wieder herunter.

Lohnt die Mühe nicht. Non vale la pena, sagt der Spanier, und geht zum Stierkampf. Ja, da ist das alltäglich, das Risiko-Rumoren im Bauch. Solange geht das Spiel, bis die Tierschützer kommen und Tränen vergießen über das grausame Ende der Stiere.

Er friert.

Zieht ein magerer Mond vorbei, möchte nicht schuld sein an dem Tänzchen. So ein jämmerlicher Trabant! Nicht ein kosmischer Wurm fühlt sich da oben wohl, kein Gott und kein Käfer. Jeder Gully ist besiedelt, da oben nichts als Staub und Krater. Verscheucht die Sterne mit geliehenem Licht, wenn er voll ist. Jetzt bläht er sich zu einer Sichel, wie so´n oller Jollensegler auf dem Bodden. Ich wünsch mich in mein Bett und eine Decke drüber. Meinetwegen könnt ihr kommen, ihr Bergwächter in euren Rettungskostümen, ich bin bereit. Hallo! Wenn ihr nicht gleich erscheint und mich hier losmacht, bin ich beleidigt. Dann gibt´s eine Beschwerde bei der Kurverwaltung. Lebt sich doch nicht schlecht von der Kurtaxe, oder? Einsame Gipfel, unberührte Natur. Hochglanzprospekte laßt ihr drucken, dagegen sind Lügen ...
Jetzt winselt ihr weinselig im Trachtenrock Heimatabende für Touristen, verramscht die letzten Aktien eurer Herkunft. Anbiedern müsst ihr euch mit Haut und Haar, weil vom Berg ein Käse rollt, der euch nicht fett macht. Mahlzeit!

Er summt jämmerlich: “Froh zu sein bedarf es wenig ... .

Ich werde hier solange hängen, bis ich einen Ausweg gefunden habe, der nicht zurück in die Ausweglosigkeit meines Lebens führt. Das ist der Sinn meines Herumhängens. Ich verspüre manchmal doch eine Neigung zum Badeort.

Er macht gymnastische Übungen, um sich aufzuwärmen.

Da ist ein Seil von oben, das mich hält. Soll bis in den Himmel reichen, Böhner die Totenglocke läuten! Ich liebe das Leben, mir geht es gut.

Er trinkt die Schnapsflasche leer.

Es gibt immer Wege, es gibt noch mehr Ideen, es gibt eine Klarheit, Entschlüsse zu fassen und danach zu handeln. Erweiterung und Vertiefung, verdammt noch mal! Ausgerechnet jetzt juckt es mich in den Beinen, beinahe fast physisch, es juckt mich, mein Leben sofort so zu gestalten, dass ich vor meinen eigenen Ansprüchen bestehe. Au, meine Leber zwickt. Wahnsinn, in welche Kreise man gerät, weil man gezwungen ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe Lust loszurennen, die verlorene Zeit aufzuholen. Zurück zum Anfang, hurra! Au, meine Leber revoltiert!

Er verzieht das Gesicht, schaukelt dann zur Beruhigung summend am Seil.

Das Wichtigste im Leben ist Sex. Einen Körper dazu, wie nur Bergsteiger ihn haben. Es ist kein Geheimnis, deshalb ist Bergsteigen so beliebt. Alle wollen hinauf, den Berg besteigen wie eine Frau. Die Berge. Die Monogamie ist der natürliche Feind des Alpinisten. Hier weht ein frischer Wind. Da möchte man anfassen oder sich berühren lassen, bei sauberem Sauerstoff in der Lunge. Hier oben bin ich fähig zur freien Liebe, weil mein Gemüt sich über den Alltag erhebt. Ich kriege Lust, ich kriege Lust. Stop! Kein Thema jetzt.

Er hört auf zu schaukeln.

Dieser klare Nachthimmel weitet mein Hirn und füllt es mit Gedanken. Mechanisch bewegt sich alles, wenn man hinsieht, kreist und jagt und schleudert es, und ist doch ganz und gar gefangen, so wie ich.
Dass dieses unermeßlich Große hält und doch zu nichts taugt, als nur zum Anschauen. Welch schwacher Abglanz streift meine Augen von den großen Feuern, die wie Funken Erdenmassen in Sekunden spucken und verglühen lassen.

Schweigen.

Ja, ich hörte Böhner einmal laut und einsam stöhnen. Erbärmlich, sich in der Sauberkeit des Büroambientes animalisch zu empfinden. Die Tür war angelehnt. Ich konnte nicht mal lachen. Mahlzeit!

Schweigen.

So still hier? Bloß ein Lüftchen, ein Geist! Leben, mehr nicht.

Er lacht ein erbärmliches Lachen.

Eher spüren sie durch Satelliten einen Munitionsbunker auf, als Menschen in Not. So sehen Prioritäten aus. Soll ein Chor dabei `Freude schöner Götterfunken´ intonieren?

Ein Wolkennebel verhüllt ihn bis zum Kopf. Er pfeift die Europa-Hymne.

Der Nebel kriecht mir unter´s Rip-Stop-Nylon. Fühl mich als Büste, bronzemetallisch kalt.
Dieser Planet wirft seine Wetter auf mich wie auf einen Stein. Muss in meinem Schädel Feuer halten, weiter ...

Er versucht mit einem Taschentuch seinen Kopf zu bedecken.

Es gibt Menschen, die frieren nicht. Ich friere ist ein Wert, den Rezeptoren an eine Schaltzentrale leiten, die diesen Wert mit Erfahrungen vergleicht. Mein Verstand bestimmt die Gradzahl. Es ist kühl, doch angenehm. Auf Dauer riskier ich einen Schnupfen.

Er verharrt einen Augenblick stumm, dann zieht er ein Messer aus der Tasche, betrachtet es schweigend.

Ha, da beschleunigt gleich der Puls, steigt Blut ins Hirn. Kaum an diese Grenze gedacht, setzt mein Körper neue Kräfte frei. Den Widerstand bricht nur ein kaltes Denken. Verwandle mich zurück in eine Primitivmaschine. Ein Insekt, das sich am Faden aushängt.

Schweigen.

Wach bleiben, immer wach bleiben! Resignation ist der Untergang des Abendlandes. Die hat schon mächtige Unternehmen in ihren Strudel gezogen.
Meine Uhr. Sie läuft. Weiter. Sie hat einen Wecker. Wenn´s klingelt, heißt es aufstehen! Auf dem langen Faden Zeit nur eine kurze Strecke bis zum Morgen.

Er schneidet ein Stück Stoff aus seinem Parka. Wickelt es sich um den Kopf. Der Wolkennebel hüllt ihn ein. In den Sternenhimmel schiebt sich ein Wolkenkeil.
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